Lernen ist das Persönlichste auf der Welt, es ist so eigen wie ein Gesicht oder ein Fingerabdruck.
Heinz von Foerster

Bausteine einer stärken- und begabungsfördernden Unterrichtspraxis:

Wie gelingt ein Unterricht, der sich an den Stärken und Begabungen der Lernenden orientiert und persönliche Lernzugänge eröffnet: spannend, motivierend, weder unter- noch überfordernd? Lernmaterialien, Unterrichtskonzepte und Werkzeuge als Antwort auf die Vielfalt der Stärken und Potenziale von Kindern und Jugendlichen.

von

Gerold Brägger

Gerold Brägger, M.A., ist Leiter und Gründer der Plattform IQES online und des Beratungs- und Weiterbildungsinstituts schulentwicklung.ch. Er ist Erziehungswissenschaftler, Schulberater, Lehrerbildner, Autor von pädagogischen Fachbüchern und Lernmitteln sowie Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift PÄDAGOGIK.

Arbeitsschwerpunkte: Schul- und Unterrichtsentwicklung, Evaluation, Digitale Medien in Schule und Unterricht, kompetenzorientierter Unterricht und selbstkompetentes Lernen, Schulleitung, Gute gesunde Schulen, Schulentwicklung in Netzwerken und Bildungsregionen.

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Web: www.IQESonline.net | www.schulentwicklung.ch

Publikationen von Gerold Brägger im Beltz Verlag

und

Nicole Steiner

Nicole Steiner, MA, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin, Autorin und Redaktorin IQES online und IQES Lernkompass, Mitglied Beratungsteam schulentwicklung.ch, Pädagogin, Psychologin, Illustratorin und Theaterpädagogin. Als Primarlehrerin hat sie langjährige Praxiserfahrung, vorwiegend an Schulen mit integrativer Schulungsform. Sie erstellt und betreut Konzepte für Lese- und Schreibförderung, Feedback und Begabtenförderung. Web: www.IQESonline.net | www.schulentwicklung.ch

Stärken- und Ressourcenorientierung – eine Grundhaltung

Stärkenorientierung bedeutet gelebte Wertschätzung und eine institutionalisierte, gemeinsame und bewusste Suche nach Stärken und Begabungen jedes Einzelnen. Die explizite Orientierung des Unterrichts an den Ressourcen der Lernenden ist eine der grundlegenden (und wichtigsten) Forderungen der aktuellen Lehr- und Bildungspläne.

Das Schulische Enrichment-Modell SEM

Die Erkenntnisse aus dem Schulischen Enrichment-Modell SEM von Joseph Renzulli, Sally Reis und Ulrike Stedtnitz (2001) bilden dafür eine zentrale Basis: Das Potential von Lernenden entwickeln und ihre Stärken mit vielfältigen Lernangeboten fördern: Erkenntnisse, die den Grundgedanken des individualisierenden und differenzierenden Unterrichts entsprechen.

Enrichment (Anreicherung) kann inhaltliche Vertiefung und Erweiterung innerhalb gemeinsamer Lerninhalte sein, als auch weiterführende Lernaktivitäten über den schulischen Lehrplan hinaus bieten. Interessierte und motivierte Schüler:innen sollen dabei angeregt werden, ihre Stärken und Begabungen vertieft weiterzuentwickeln oder in (neue) Interessengebiete einzutauchen.

Quelle: Das Schulische Enrichment-Modell von Joseph Renzulli, Sally Reis und Ulrike Stedtnitz (2001) / Bild: Mila Steiner

Das Schulische Enrichment Modell von Joseph Renzulli, Sally Reis und Ulrike Stedtnitz (2001) thematisiert Potenziale und Stärken und beschreibt in seiner ursprünglichen Form drei Stufen von Aktivitäten des «Enrichments Typ I bis III». Die Elemente dieses Modells lassen sich sowohl auf Klassen- als auch auf Gesamtschulebene umsetzen. Die Klasse ist erster und wichtigster schulischer Förderraum. Lehrpersonen nehmen auf der Ebene des Klassenunterrichts Begabungen und Ressourcen ihrer Schüler:innen wahr. Individualisierende und differenzierende Lehr- und Lernformen und ein auf Binnendifferenzierung ausgerichteter Unterricht sind weitere wesentliche Bausteine des Modells.

Schnupperangebote

Typ I: Interessen weckende Aktivitäten (Anregungsphase): Angebote für die gesamte Schule oder in den einzelnen Klassen, mit dem Ziel, neue Interessensfelder zu wecken, Entdeckungen zu ermöglichen und die Lernenden für weiteres Engagement in speziellen Fähigkeitsbereichen zu motivieren. Regelmäßige Schnupperangebote finden in den Lernateliers und an Projekttagen statt.

Grundfertigkeiten

Typ II: Aufbau von Grundfertigkeiten zu entdeckendem und forschendem Lernen. Die Schüler:innen entwickeln Eigenverantwortung, Selbstlernfähigkeiten, Lernstrategien und -haltungen, sowie Methodenkompetenz. Sie erwerben Kompetenzen für die Bearbeitung anspruchsvoller Aufgaben und Problemstellungen und entwickeln besondere Interessen und Begabungen weiter. Die Grundfertigkeiten werden vor allem im Klassenunterricht oder beispielsweise in Forscher:innenräumen gefördert.

Individuelle Projekte

Typ III: Individuelle und eigenständige Projekte realisieren: Die Schüler:innen arbeiten auf der Basis ihrer individuellen Begabungen individuell oder kooperativ an eigenen Projekten. Diese Projekte können sehr vielfältig organisiert werden: im Regelunterricht, im Lernatelier oder in dafür vorgesehenen Ressourcenräumen.

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Selbstwirksamkeit als Lernmotor

Quelle: Motivationstheorie nach Deci&Ryan (1993)/ Bild: Mila Steiner

Menschen können auf verschiedene Arten motiviert sein, etwas zu tun. Entweder von innen, intrinsisch: aus Freude an der Tätigkeit selbst, und nicht um der Konsequenzen willen.

Oder von außen, extrinsisch: der Grund liegt nicht in der Tätigkeit selbst, sondern in der Konsequenz, oft sind dies verschiedene Arten von Belohnung.

Untersuchungen von Deci & Ryan (1993) zeigen dabei deutlich, dass extrinsische Motivation die intrinsische senkt. Ihre Selbstbestimmungstheorie besagt, dass durch eine Befriedigung der drei Grundbedürfnisse Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit die Chancen steigen, dass Menschen intrinsisch motiviert handeln und mit positiven Gefühlen lernen werden.

Die Schüler:innen brauchen also unterschiedlichste Erfahrungen,  etwas zu können,  müssen sich in einen sozialen Kontext  eingebunden fühlen und Lernangebote haben, die zu ihrer individuellen Lernausgangslage passen.

Stärken und Begabungen erkennen: Was kann ich gut?

Die Vorbildwirkung spielt auch im Umgang mit eigenen Stärken und Begabungen eine wesentliche Rolle. So bildet das persönliche Mindset, die eigenen Werte und Haltungen, aber auch die eigene Denkweise den Kern der pädagogischen Kompetenz.

Dieser wird erweitert durch eigenes Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sich dieser Fähigkeiten bewusst zu sein, die eigenen Stärken zu pflegen, auf ihnen aufzubauen, sie mit anderen zu teilen, sind wesentliche Bestandteile der persönlichen Entwicklung, in welchem Alter auch immer.

Für Lehrpersonen ist die Stärkenorientierung auch ein Hinweis zur Kooperation innerhalb von Unterrichts- und Fachteams, um unterschiedliche Stärken als Vielfalt und für alle gewinnbringend, zeit- und ressourcenschonend einzusetzen!

Das Bewusstsein für die eigenen Stärken: Spielerische Übungen für Kollegien und Teams

Frage- und Antwortspiele sind Klassiker und bringen uns ins Gespräch: Mit uns selbst und mit anderen!

Wichtig ist, dass man nie aufhört zu fragen.
Albert Einstein

Die kleine Fragerei

Fragekartenset

Die kleine Fragerei stellt etwas andere, kreative Fragen: für Selbst- und andere spannende Gespräche.

Autor/Autorin: Mila Steiner, Nicole Steiner

Herkunft: Personalisiertes Lernen

Umfang/Länge: 3 Seiten

Fächer: alle Fächer

Stufen: alle Stufen

Knobelt zuerst aus, wer startet. Berichtet euch dann abwechslungsweise während je zwei Minuten von euren Stärken! Fällt euch das eher schwer oder könntet ihr noch einige Minuten länger erzählen?

Aufgabenblatt und Austausch: In welcher Reihenfolge wählst du die Aufgaben? Und wo liegen die Gründe für deine Wahl?

Unterrichtseinheit «Weltall»

Kleiner Selbstversuch: Aufgabenwahl nach eigenen Stärken und Ressourcen

Herkunft: Personalisiertes Lernen

Umfang/Länge: 1 Seite

Fächer: alle Fächer

Stufen: 3. Stufe, 4. Stufe, 5. Stufe, 6. Stufe, 7. Stufe, 8. Stufe, 9. Stufe, 10. Stufe, 11. Stufe, 12. Stufe, Erwachsenenbildung

Die Lernenden «beim Gelingen erwischen», oder: Ich interessiere mich für dich!

Der «Stärkensammler»

Für persönliche Stärken und Lerntreffer braucht es oft ein Bewusstsein. Förderlich dafür kann es sein, solche «Perlen» sammeln zu lernen.

Zum Stärkensammler

Interessiere ich mich als Lehrperson für die individuellen Stärken meiner Lernenden? Gebe ich diesen Stärken mehr Gewicht als den vielleicht ebenfalls noch vorhandenen Defiziten? Vermag ich mein Bild auch zu verändern?

Wir wissen, gerade auch im pädagogischen Wirkungsfeld, um die Macht der selbsterfüllenden Prophezeiung: Mein persönliches Bild hat auch die Kraft, das Selbstbild der Kinder und Jugendlichen zu verändern. Gegenseitig stärkenorientiertes Verhalten wirkt auch gegenseitig be- und verstärkend. Und es liegt an der Lehrperson, in diese Richtung auch die ersten Schritte zu unternehmen.

Für persönliche Stärken und Lerntreffer braucht es oft ein Bewusstsein. Förderlich dafür kann es sein, solche «Perlen» sammeln zu lernen.

Jenseits von «begabt» und «unbegabt»

Stärken und Begabungen bezeichnen intellektuelle, emotionale, motorische, kreative, künstlerische oder soziale Potenziale oder Fähigkeiten, welche jeder Mensch in unterschiedlicher Ausprägung besitzt. Diese können sich unter günstigen persönlichen und sozialen Bedingungen hervorragend (weiter-)entwickeln und auch zu solchen Leistungen führen. «Jenseits von ‹Begabt› und ‹Unbegabt› » (Heinrich Jacoby) bringen fast alle Menschen ein großes Potenzial an Lernfähigkeit mit, auch in Bereichen, in denen sie sich (noch) wenig zutrauen. Deshalb sollten wir Kindern und Jugendlichen nicht vorschnell Begabungen zu- oder absprechen. Ein achtsamer Umgang, vor allem auch mit dem Begriff der Hochbegabung, ist zwingend. Gerade hier können falsche oder überhöhte Erwartungen (auch der Eltern) geweckt werden.  

Literaturliste

Deci, E. L. / Ryan, R. M. (1993): Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik. Weinheim: Beltz.

Direkt-Download PDF

Literaturliste

Eisenbart, Urs; Schelbert, Beat; Stokar-Bischofberger, Esther (2010): Stärken entdecken - erfassen - entwickeln e3. Das Talent-Portfolio in der Schule. Bern: Schulverlag plus AG.

Hattie, John; Zierer, Klaus; Ludden, Franz (2018): Kenne deinen Einfluss. Visible Learning für die Unterrichtspraxis. wbv Media.

Literaturliste

Jacoby, Heinrich: Jenseits von ›Begabt‹ und ›Unbegabt‹ (2011). Zweckmäßige Fragestellung und zweckmäßiges Verhalten - Schlüssel für die Entfaltung des Menschen. Erstausgabe 1945. 7. Aufl., Hamburg: Christian Verlag

Literaturliste

Rüdiger, Iwan (2005): Zeig, was du kannst! Portfolioarbeit als zentrales Anliegen der Waldorfpädagogik. Heidelberg: MENON Verlag.

Von der Groeben, Annemarie (2012): Verschiedenheit nutzen. Aufgabendifferenzierung und Unterrichtsplanung (Sekundarstufe I). Cornelson Scriptor.

Vertiefungsmöglichkeit:
Werkstatt Individualisieren

Literaturliste

Dweck, Carol (2007): Selbstbild. Wie unser Denken Erfolge oder Niederlagen bewirkt. München: Piper Verlag.

Passende Unterrichtsmaterialien und Werkzeuge

Literaturliste

Furman, Ben (2007): Ich schaffs. Spielerisch und praktisch Lösungen mit Kindern finden. Verlag Auer

Literaturliste

Huser, Joelle (1999): Lichtblick für helle Köpfe. Lehrmittelverlag des Kantons Zürich

http://www.begabungsfoerderung-schweiz.ch/sites/default/files/publications/inklusion_und_schoolwide_enrichment_mueller-oppliger.pdf

Renzulli, Joseph S.; Reis, Sally M.; Stedtnitz, Ulrike (2003): Das Schulische Enrichment Modell. Sauerländer

Literaturliste

Stedtnitz, Ulrike (2008): Mythos Begabung. Vom Potenzial zum Erfolg. Bern: Verlag Hans Huber. Mit einem Vorwort von Lutz Jäncke.

Von der Groeben, Annemarie (2012): Verschiedenheit nutzen. Besser lernen in heterogenen Gruppen. Cornelson Scriptor.

Vertiefungsmöglichkeit:
Werkstatt Individualisieren

Kinderliteratur Buch 1

Man muss gar nicht groß und stark sein, um seine eigene Stimme zu finden.

Bright, Rachel; Dovidonyte, Norvile, (2016): Der Löwe in dir! Magellan.

Kinderliteratur Buch 3

Wir alle haben unsere Stärken. Das Buch hilft, Talente und Begabungen zu erkennen und ermutigt, die Dinge, die uns Spaß machen oder die wir besonders gut können, zu vertiefen und als unsere Stärken zu betrachten. Die Geschichten mit verschiedenen Kindern als Identifikationsfiguren liefern einen Anstoß, um über die eigenen Fähigkeiten und Motivationsquellen nachzudenken und sie auszubauen.

Isern, Susanna (2020): Das große starke Buch. Jumbo.

Kinderliteratur Buch 5

Wunderbare Anregung, um gemeinsam über individuelle Stärken und vielseitige Begabungen nachzudenken!

Moost, Nele (2010): Wenn die Ziege schwimmen lernt. Beltz.

Kinderliteratur Buch 7

Eine Geschichte über die unendlich vielen Begabungen in jedem von uns.

Yamada, Kobi (2019): Vielleicht. Adrian Verlag.

Kinderliteratur Buch 2

Jedes Kind in einer bunt gemischten Gruppe bastelt einen eigenen Heißluftballon. Alle arbeiten zwar zusammen, doch jeder mit seinen eigenen Talenten und Fähigkeiten. Am Ende gleicht kein Ballon dem anderen, so wie kein Kind dem anderen gleicht. 

Gaines, Joanna (2021): Die Welt braucht dich. Genau so, wie du bist. MVG

Kinderliteratur Buch 4

Es sind die unterschiedlichsten Menschen, Dinge und Situationen, die uns glücklich machen. Sie sind alle gemeinsam die allergrößten Schätze unseres Lebens.

Isern, Susanna (2021): Das große Buch der allergrößten Schätze. Jumbo.

Kinderliteratur Buch 6

Eine beträchtliche Anzahl großer Entdeckungen und Erkenntnisse wäre nie gemacht worden, wenn es keine menschlichen Irrtümer, Fehler und Unfälle gegeben hätte. Trotz seines schlechten Rufs ist der Fehler also der am meisten unterschätzte Held aller Lernprozesse.

Mariño, Soledad Romero; Galbany, Montse (2022): Geniale Fehler. Knesebeck.

Kinderliteratur Buch 8

Das Buch verrät, wie jeder seine großartigen Fähigkeiten entdecken kann und enthält zahlreiche farbenfrohe und mutmachende Anregungen und Bilder, die das Selbstvertrauen stärken und die Kreativität entfalten.

Young, Karen; Dovidonyte, Norvile, (2021): Hey, du bist großartig! Carl-Auer Verlag GmbH.